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"Es war einmal eine unschuldige Ukraine" – Wie der Westen die Geschichte manipuliert

Das westliche Narrativ blendet die Ereignisse vor der russischen Intervention in der Ukraine vollständig aus. Damit wird nicht nur die jüngste Geschichte verzerrt, sondern auch die Suche nach einer gerechten Friedenslösung sabotiert.
"Es war einmal eine unschuldige Ukraine" – Wie der Westen die Geschichte manipuliertQuelle: Gettyimages.ru © Viktor Koshkin/Anadolu Agency

Von Wladimir Kornilow

Die Ukraine ist auf die Titelseiten der Weltpresse zurückgekehrt. Zwar nur für ein paar Tage, aber das Kiewer Regime zeigt sich dennoch damit zufrieden. Während sich Wladimir Selenskij wiederholt besorgt über die Aussicht geäußert hat, im Westen "völlig von der Bildfläche zu verschwinden", ist die Ukraine im Zusammenhang mit dem zweijährigen Jahrestag der russischen Sonderoperation ins Blickfeld zurückgekehrt. Erneut gab es viele bombastische Reden und Versprechen, der Ukraine zu helfen, "so lange es nötig ist".

Bezeichnend für diese Reden ist die allgemeine Vergesslichkeit des Westens: Man hat den Eindruck, dass die Geschichte für diese Figuren erst am 24. Februar 2022 begann. Alles, was davor geschah, ist völlig aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Das Narrativ westlicher Politiker und Medien lässt sich so zusammenfassen: Die ruhige, unbefleckte und behagliche Ukraine lebte friedlich vor sich hin und krümmte niemandem ein Haar – und wurde plötzlich wie aus dem heiteren Himmel von einem schrecklichen, aggressiven, barbarischen, totalitären Russland angegriffen. Ganz ohne jeden Grund – einfach angegriffen, das ist alles!

Dieses Narrativ ist in praktisch jeder Rede westlicher Politiker zu diesem Thema enthalten. Hier zum Beispiel eine typische Aussage von König Karl dem Dritten von Großbritannien:

"Der unprovozierte Angriff auf ihr Land, ihr Leben und ihre Umwelt geht in sein drittes tragisches Jahr."

Dementsprechend zeigen die Ukrainer "wahren Heldenmut im Angesicht der unsäglichen Aggression". Das ist die Hauptaussage der meisten dieser Erklärungen: Der "unprovozierte Angriff" begann vor genau zwei Jahren und davor war nichts geschehen!

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock steuerte ihre besonderen mathematischen Fähigkeiten bei (erinnert sei an ihre "360-Grad-Drehungen") und schrieb einen Artikel für die Bild-Zeitung, in dem sie errechnete, dass der Krieg in der Ukraine 731 Tage gedauert habe. Doch es gab eine unerwartete ideologische Pointe: Die Zeitung fügte wie zum Hohn ein Foto von Baerbock in einer gut sitzenden Schutzweste bei, wie sie durch die Straßen des Ortes Schirokino (Volksrepublik Donezk) läuft. Die Bildunterschrift unter dem Foto lautet:

"Zwei Wochen vor der Invasion studiert Baerbock die Lage an der Front im Donbass."

Verzeihung, aber was bedeutet "an der Front" im Zusammenhang mit "zwei Wochen vor Beginn der Invasion", wenn alles erst am 24. Februar 2022 überhaupt begonnen haben soll? Russland hatte noch gar nicht "angegriffen", aber die Frontlinie war schon da? Das Bild, das der westlichen Öffentlichkeit von einer friedlichen Ukraine vermittelt wird, ist wohl doch nicht ganz stimmig!

Baerbock hatte Schirokino am 8. Februar 2022 besucht, als die Ukraine die Feindseligkeiten im Donbass bereits drastisch verschärft hatte. Dieser einst wohlhabende Kurort am Asowschen Meer stand mehrere Jahre lang auf der obligatorischen Besuchsroute ausländischer Delegationen. Westler spazierten durch die zerstörte Siedlung und beklagten die "Folgen der russischen Aggression". Allerdings hat ihnen niemand gesagt, dass dieses friedliche Dorf im Jahr 2015 von Panzern der Asowschen Nazis* bombardiert wurde, womit diese selbst gerne prahlten. Aber wozu sollte man westliche Führer mit solchen Details überfordern?

Wenn man sich nun alle offiziellen Erklärungen westlicher Persönlichkeiten ansieht, wird praktisch nirgends die Vorgeschichte des Krieges im Donbas von 2014 bis 2022 erwähnt. Weder die Bombardierung friedlicher Städte durch ukrainische Flugzeuge und Artillerie noch die Erschießung von Zivilisten durch ukrainische Nazis noch die Minsker Vereinbarungen, die von Kiew ignoriert wurden – es ist, als ob nichts von alledem je geschehen wäre! Es ist, als ob eine kollektive Sklerose das Bewusstsein des Westens vernebelt hat.

Das ist übrigens auch der Grund, warum man in Großbritannien so nervös auf die anderthalbstündige Dokumentation "Ukraine's War: The Other Side" des Senders ITV reagiert hat. Am Vorabend der Ausstrahlung des Films gab es lautstarke Forderungen, ihn zu verbieten. Doch der Film hat lediglich die Meinung der Menschen im Donbass wiedergegeben. Und sie alle sagten, dass sie sich in den zehn Jahren des Krieges bereits an Beschuss, Angriffe und Sirenen gewöhnt haben. Sogar die örtlichen Hunde haben sich daran gewöhnt! Sie müssen zugeben, dass dies eine unbequeme Wahrheit für den Westen ist. Es belegt, dass all das nicht erst vor zwei Jahren begonnen hat. Und auch, dass diesen Krieg ganz sicher nicht Russland angefangen hat! Russland versucht gerade, ihn zu beenden.

Den Äußerungen westlicher Persönlichkeiten nach zu urteilen, wollen diese aber gar nicht, dass der Konflikt beendet wird. Das offizielle Kommuniqué der G7, das nach dem Online-Treffen vom Samstag, bei dem mehrere westliche Premierminister in Kiew zusammenkamen, veröffentlicht wurde, zeigt, dass sie die Ukrainer weiterhin in den Fleischwolf des Krieges werfen wollen.

Das Treffen verlief allerdings nicht ohne Intrigen. Unerwartet für viele wurde es vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron ignoriert, der mehr mit den Problemen der Bauern beschäftigt war. Nach Angaben der italienischen Presse wurde dies von den anderen Teilnehmern des Treffens als Fahnenflucht empfunden. Andererseits berief Macron am Montag in Paris erneut unerwartet einen seltsamen Gipfel zur Ukraine ein. Die Öffentlichkeit erfuhr davon aus dem Munde des polnischen Präsidenten Andrzej Duda, der dazu eingeladen worden war. Dies führte zu noch mehr Spekulationen über eine Spaltung in den Reihen der westlichen Verbündeten der Ukraine.

Ganz gleich, wie sehr die führenden Politiker der westlichen Welt versuchen, die Ziele und Handlungen Russlands zu verdrehen, die Müdigkeit gegenüber der Ukraine wächst, da die Vergeblichkeit des Versuchs, "die Russen auf dem Schlachtfeld zu besiegen", von immer mehr Europäern erkannt wird. Dies zeigen Umfragen in fast allen europäischen Ländern. Auf die kollektive Vergesslichkeit des Westens zu setzen, funktioniert offensichtlich nicht. Zu frisch sind die Ereignisse der jüngeren Geschichte und die immer gleichen leeren Versprechungen vom "Sieg über Russland", die jetzt wieder auf verschiedenen Plattformen zu hören sind, im Gedächtnis. Es wird nicht möglich sein, die Öffentlichkeit ewig mit denselben Märchen über die "unbefleckte und behagliche" Ukraine und das "aggressive" Russland zu füttern.

Dies gilt umso mehr, als viele im Westen dieser ständigen Lügen bereits überdrüssig sind. Der altgediente britische Journalist Peter Hitchens hat auf den Seiten der Mail on Sunday – eben jener Zeitung, die aktiv an der antirussischen Kampagne beteiligt ist – einen Artikel geschrieben, der alle Stereotype, die sich im Westen über den Ukraine-Konflikt gebildet haben, schlichtweg erschüttert. Er erinnerte daran:

"Zehn Jahre sind vergangen, nicht zwei Jahre, seit der Krieg in der Ukraine begann. Und wenn man das erst einmal begriffen hat, kann man anfangen, klar darüber nachzudenken. Ich fordere Sie nur auf, den Verstand zu gebrauchen, nicht die Emotionen."

Eine scheinbar offensichtliche, leicht zugängliche Wahrheit, die im Zeitalter des Internets über jede Suchmaschine leicht nachprüfbar ist. Aber Hitchens' Worte klingen wie ein Donnerhall vor dem Hintergrund einer Flut von antirussischer Propaganda! Und alle Mythen über das "unglückliche Opfer einer bösen Aggression" fallen plötzlich in sich zusammen.

* Eine in Russland verbotene terroristische Organisation.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Originalartikel ist am 26. Februar 2024 auf ria.ru erschienen. 

Mehr zum Thema - Montjan: Den Konflikt zu lösen, heißt begreifen, dass alles lange vor 2022 begann

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.