Meinung

Buchauszug: Wolfgang Bittner über das Recht Russlands auf Selbstverteidigung

Unisono tönt aus dem US-geführten Westen, dass Russland die Ukraine überfallen habe und einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen sie führe. Der Jurist, Schriftsteller und RT-Autor Wolfgang Bittner hat ein Buch veröffentlicht, das diesem Narrativ auf den Grund geht. Hier ein Auszug daraus.
Buchauszug: Wolfgang Bittner über das Recht Russlands auf SelbstverteidigungQuelle: Sputnik © Sergey Averin

Von Wolfgang Bittner 

Mit dem Umsturz in Kiew begann nach längeren Vorbereitungen durch die CIA, westliche Geheimdienste und Nichtregierungsorganisationen, die sich die zunächst friedliche Maidan-Bewegung westlich orientierter Ukrainer zunutze gemacht hatten, der neue Kalte Krieg gegen Russland. Die USA ließen den schon überwunden geglaubten West-Ost-Konflikt zur Lösung ihrer innerstaatlichen Probleme und um die gigantische Aufrüstung und ihre Aggressionspolitik zu rechtfertigen, wieder aufleben. Das nächste Hauptziel ist – falls es nicht zum "großen Krieg" kommt, vor dem schon Michail Gorbatschow warnte – der Regime Change in Moskau.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 hatte einen gewaltigen Aufschrei in der von den USA angeführten westlichen Welt bewirkt. Ignoriert wurde alles, was vorher geschehen ist. Wladimir Putin sei ein bösartiger Kriegstreiber, ein Verbrecher (wie Joseph Biden ihn nannte), der einen Nachbarstaat überfallen habe, er führe einen gnadenlosen, imperialistischen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Das war überall zu lesen und zu hören. Es wäre zu prüfen gewesen, ob das wirklich der Fall war. Aber schon die Frage zu stellen, zieht Schmähungen und Bedrohung nach sich.

In der Charta der Vereinten Nationen heißt es in Artikel 51:

"Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält." 

Der Artikel gewährt also im Falle eines bewaffneten Angriffs ein Recht zur Selbstverteidigung und zur Nothilfe (zur kollektiven Selbstverteidigung). Darauf berief sich Russland beim Einmarsch in die Ukraine, die aufgerüstet wurde, um gegen die Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie gegen die mittlerweile zur Russischen Föderation gehörende Krim militärisch vorzugehen.

Ab Mitte Februar 2022 kulminierte der Bürgerkrieg, und es fand ein massiver Angriff auf Donezk und Lugansk statt. Es drohte ein Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung im Osten der Ukraine, wo bis Anfang 2021 bereits mehr als 13.000 Menschen getötet, etwa eine Million in die Flucht getrieben und Städte und Dörfer zerstört worden waren. Demnach war Nothilfe nach Artikel 51 der UN-Charta aus der Sicht Russlands geboten. Allerdings hatte kein militärischer Angriff auf dem Territorium Russlands stattgefunden, Selbstverteidigung traf also nicht zu. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass die Ukraine von den USA mit modernsten Waffen ausgerüstet worden war und dass Selenskij zudem damit gedroht hatte, sich Atomwaffen zu beschaffen. Außerdem hatten die USA Russlands berechtigte Forderung nach Sicherheitsgarantien abgelehnt.

Die Frage, auf die letztlich alles hinausläuft, ist, ob ein Land einer unmittelbar drohenden Gefahr militärisch begegnen darf, obwohl es noch nicht militärisch angegriffen wurde. Vereinfacht ausgedrückt: Darf jemand mit Gewalt gegen einen Verbrecher vorgehen, der an seiner Tür rüttelt? Die Kiewer Regierung ging ja in unmenschlicher Weise mit Artillerie und Panzern gegen die Zivilbevölkerung in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk vor und brachte Tausende Menschen um. Das erfüllt den Tatbestand des Völkermords (Genozid) nach Paragraf 6 des Völkerstrafgesetzbuches:

"Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, ein Mitglied der Gruppe tötet, einem Mitglied der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 des Strafgesetzbuches bezeichneten Art, zufügt, die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen … wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft." 

Demnach könnte sich Russland bei seiner humanitären Intervention auch auf seine Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, kurz RtoP) für die russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine berufen, ein völkerrechtlich allgemein anerkanntes Gebot zur Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen. RtoP ist allerdings eine problematische Doktrin, die ursprünglich von den USA und der NATO ins Völkerrecht eingebracht wurde, um den Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu rechtfertigen. Die ukrainische Armee sowie Freiwilligenverbände und faschistische Truppen haben die Menschen in Donezk und Lugansk jahrelang beschossen und bombardiert, ohne dass der UN-Sicherheitsrat einschritt. Da im Februar 2022 ein Großangriff erfolgte, sah sich Russland veranlasst, zum Schutz der ostukrainischen Bevölkerung militärisch einzugreifen und unter Berufung auf Artikel 51 der UN-Charta den angegriffenen Volksrepubliken Nothilfe zu leisten.

Beim Einmarsch in die Ukraine hatte die russische Regierung den UN-Sicherheitsrat informiert, wie es Artikel 51 der Charta verlangt. Wladimir Putin hatte sich zu den Gründen seines Vorgehens in einer Rede an die Nation gewandt und diese Rede zusammen mit der Anzeige über den Militäreinsatz an die Vereinten Nationen gegeben. Doch die UN-Vollversammlung missbilligte den Einmarsch am 2. März 2022 auf das Schärfste und beschloss mit fünf Gegenstimmen (Weißrussland, Eritrea, Nordkorea, Russland, Syrien), dass Russland seine Kampfhandlungen beenden und sich aus der Ukraine zurückziehen müsse.

Es kann davon ausgegangen werden, dass auf der UN-Vollversammlung, auf der regelmäßig die USA und ihre Vasallen dominieren, nicht sämtliche Fakten und die Entwicklung in der Ukraine berücksichtigt wurden. Außerdem ist es den Vereinten Nationen selbst nicht gelungen, ihre Charta gegen NATO-Staaten durchzusetzen, die mehrfach eklatant dagegen verstoßen haben. (...)

Angela Merkel wollte Krieg – Russland fordert Reparationszahlungen

Krieg mit Russland war die Absicht, die der sogenannte Wertewesten von vornherein in und mit der Ukraine verfolgt hat. Das geht aus Interviews hervor, die Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel am 24. November 2022 und am 8. Dezember 2022 dem Spiegel und der Zeit gegeben hat. Offenbar um sich gegen Vorwürfe zu wehren, sie sei in ihrer Russland-Politik zu naiv und russlandfreundlich gewesen, sagte sie, das Minsker Abkommen von 2014 sei unterzeichnet worden, um der Ukraine "Zeit zu geben", und die Kiewer Regierung habe die Zeit genutzt, "um stärker zu werden". Nachdem die Kiewer Ukraine – offensichtlich im Einvernehmen mit den USA – 2014 vor der Haustür Russlands Feuer gelegt hatte, wurde der Bürgerkrieg im Donbass so weit angeheizt, dass es zu einem Krieg mit Russland kommen musste. Demnach haben Deutschland, Frankreich, die Ukraine und die USA in den Jahren vor dem russischen Einmarsch doppeltes Spiel getrieben, das heißt intrigiert, gelogen und Kriegsvorbereitungen getroffen.

Der russische Präsident Wladimir Putin zeigte sich tief enttäuscht. Er beklagte einen Mangel an Ehrlichkeit und erklärte am 9. Dezember 2022 auf dem Gipfel der Eurasischen Wirtschaftsunion in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek:

"Nach solchen Aussagen stellt sich die Frage: Wie können wir uns einigen? Und gibt es jemanden, mit dem man sich einigen kann? Welche Garantien gibt es?" 

Er fügte hinzu:

"Das Vertrauen ist natürlich fast auf dem Nullpunkt ..., aber letztendlich muss eine Einigung erzielt werden. ... Ich habe schon oft gesagt, dass wir zu einer Vereinbarung bereit und offen sind."

Mit dem Minsker Abkommen sollte der Konflikt im Donbass durch Verhandlungen beigelegt werden. Nach den ans Licht gekommenen Machenschaften machte der Vorsitzende der russischen Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, am 19. Dezember 2022 im Nachrichtendienst Telegram Deutschland und Frankreich für das Scheitern des Friedensplans verantwortlich:

"Die im Voraus geplante Nichterfüllung der bei der Unterzeichnung eines internationalen Vertrags auf sich genommenen Verpflichtungen – das bedeutet nicht nur einen Vertrauensverlust, sondern ein Verbrechen",

wofür sich die Unterzeichner des Minsker Abkommens – Merkel, Hollande und Poroschenko – verantworten müssten. Sie seien an der Energiekrise in Europa schuld und außerdem müssten sie "den Bewohnern des Donbass-Gebietes Kompensation zahlen". Die Lage in der Ukraine sei "die Folge der verlogenen Politik der Führer dieser Staaten". Mit der Invasion vom 24. Februar 2022 habe Moskau eine Entmilitarisierung der Ukraine erreichen wollen.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch "Ausnahmezustand – Geopolitische Einsichten und Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts", das vor wenigen Tagen im Verlag zeitgeist erschienen ist. Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. Von ihm erschienen 2014 "Die Eroberung Europas durch die USA", 2019 "Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen" sowie "Der neue West-Ost-Konflikt" und 2021 "Deutschland – verraten und verkauft. Hintergründe und Analysen".

Mehr zum Thema - Warum wir das aktuelle Regime in der Ukraine als nazistisch bezeichnen

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.