Meinung

Was Russland und die Welt aus den Misserfolgen und Erfolgen von Michail Gorbatschow lernen können

Der ehemalige sowjetische Staatschef spielte kein Computerspiel – er hatte keine Hintertüren und Tricks, mit denen man sich in modernen Computerspielen durchmogeln kann. Und er konnte auch nicht einen Neustart des Betriebssystems hinlegen, wenn etwas schiefging.
Was Russland und die Welt aus den Misserfolgen und Erfolgen von Michail Gorbatschow lernen könnenQuelle: www.globallookpress.com © Peter Homann/imago stock&people

Ein Kommentar von Iwan Timofejew

Der Tod von Michail Gorbatschow löste eine heftige Debatte über das politische Erbe des einzigen Präsidenten der UdSSR aus. Wie erwartet waren die Meinungen geteilt. Negative Einschätzungen konzentrierten sich auf die Auflösung der Sowjetunion, deren Folgen uns zum Beispiel im Konflikt mit der Ukraine noch immer beschäftigen. Positive Einschätzungen betonen jedoch eine beispiellose Demokratisierung, den Beginn des Übergangs zur Marktwirtschaft, eine starke Verringerung des Konfliktrisikos mit dem Westen und die globale Integration.

Für die einen war Gorbatschow das Symbol des Zusammenbruchs einer Supermacht, für die anderen ein Reformer, der den Weg zur Öffnung und Freiheit ebnete. Anders als die Mehrheit der sowjetischen und vorrevolutionären russischen Führer, die entweder an der Macht oder infolge des Verlustes ihrer Macht starben, lebte Gorbatschow, nachdem er seinen Posten verlassen musste, ein langes und angenehmes Leben. Dennoch bleibt er wohl die tragischste Figur unter den großen Namen der russischen Geschichte. Als energischer Organisator längst überfälliger Reformen verlor er schließlich die Kontrolle und konnte eine schnelle und unvermeidliche Katastrophe nicht abwenden.

Wenn die Staatsführung von Gorbatschow analysiert wird, dann geraten die Leute gerne in Versuchung vorzuschlagen, was sie an seiner Stelle anders gemacht hätten. Sie geben sich jeweils überzeugt, dass sie das Land nicht hätten zusammenbrechen lassen oder die Reformen noch härter durchgezogen hätten.

Angesichts dieser Denkweise könnte die Herrschaft über ein Land mit einem Simulationsspiel verglichen werden, in der so etwas wie eine Schritt-für-Schritt-Strategie erforderlich ist: Hier ist das erste Level und hier das nächste. Hier haben wir Rohstoffe, Fabriken, Lebensmittel und eine Bevölkerung. Hier sind unsere Rivalen und dort unsere Verbündeten. Man kann durch eine Hintertür einen Code eingeben und erhält eine endlose Versorgung mit Geld und Ressourcen und Angaben darüber, wo die Fallen liegen. Man kann das Spiel bei jedem neuen Level speichern und im Falle eines Rückschlags das Level erneut spielen. Schließlich kann man das Spiel auch anhalten, eine Pause machen oder es einfach für eine Weile vergessen. Nur wenige Spieler werden ihre anfängliche Strategie aufrechterhalten können, ohne irgendwann ein Level zu speichern oder andere Tricks anzuwenden.

Aber Politik ist kein Computerspiel. Gorbatschow war dazu bestimmt, eine nicht angenehme Mission zu übernehmen. Genau genommen musste er die Rechnungen und Kredite begleichen, die sich bis zum Beginn seiner Präsidentschaft in gewaltigen Summen angesammelt hatten. Die Notwendigkeit einer Veränderung war selbst für eingefleischte Konservative offensichtlich. Aber eine Modernisierung, die sich an Stalins Durchbrüche in den 1930er Jahren orientierte, gelang der Sowjetunion nicht mehr. Das Land hatte weder die demografische Stärke, noch konnte es wie zuvor Terror und Repressalien einsetzen, noch gab es erneut ein vergleichbares Maß an Bedrohungen von außen.

In den 1960er Jahren gab es einen fehlgeschlagenen Versuch, die Gesellschaft zu befreien, der als "Tauwetter" unter Chruschtschow bekannt wurde. Dann, während der Herrschaft von Leonid Breschnew, geriet das Land in eine glückselige Stabilität. Zeitgenossen erinnern sich noch immer mit Wehmut an diese Zeit, besonders nach dem Schock der 1990er Jahre. Doch diese Stabilität hatte einen Preis – den Verzicht auf strukturelle Reformen in der Wirtschaft und im politischen System, was mit der Gefahr verbunden war, die Kontrolle über die Situation zu verlieren.

Ab 1985 sah sich die Sowjetunion mehreren grundlegenden Herausforderungen gleichzeitig gegenüber. Trotz all der enormen wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften stagnierte die Wirtschaft und war zunehmend vom Export natürlicher Ressourcen abhängig. Die Effizienz der Verwaltung nahm rapide ab. Das Land degenerierte in die Misswirtschaft, in massive Engpässe bei allem und hinkte dem Westen zunehmend hinterher.

Versuche, die Wirtschaft durch Verwaltungsstrategien zu stützen – vom Zusammentrommeln von Arbeitsscheuen bis zum Einsatz der kostenfreien Arbeitskraft von Wehrpflichtigen und Mitgliedern des Kommunistischen Jugendverbandes –, führten nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Das politische System begann von Führern dominiert zu werden, die immer älter wurden. Dahinter stand ein nach außen hin konformistischer, aber zunehmend korrupter Staats- und Parteiapparat. Die Gesellschaft wurde durch Zynismus, eine Kombination aus vorgetäuschter Loyalität und informellem Nihilismus, umfassendem Alkoholismus und universellem Diebstahl erodiert. Die Kluft zwischen der wahren Größe nationaler Errungenschaften und dem Niedergang des Landes im Alltag war erschütternd. Die Situation wurde durch den Kalten Krieg, durch enorme Verteidigungsausgaben und durch die Unterstützung von Trittbrettfahrern in der ganzen Welt verschärft, die zwar die passenden Grußworte sprachen, aber die UdSSR bei der erstbesten Gelegenheit verrieten.

Was hätte man gegen diese unzähligen Probleme tun können? Wie konnte man sichergehen, dass eine Entschlossenheit nicht unter dem Gewicht einer gleichgültigen Bürokratie untergehen würde? Wie konnte man verhindern, dass das System überhitzt und man die Kontrolle über die interne Situation verliert?

Es ist auch heute nicht einfach, auf diese Fragen zu antworten, selbst wenn man weiß, was dann tatsächlich passiert ist. Wenn es heute möglich wäre, diese Ära als gespeichertes Level in einem Computerspiel neu zu beginnen, würde man dieses Level mit Erfolg zu Ende bringen können? Und auf welche Art sollte das Level neu gespielt werden? Mit einer weiteren Stagnationsrunde? Indem man eine autoritäre Modernisierung einleitet? Durch Repressalien? Oder indem man eine kompromisslose Demokratisierung wieder in Gang bringt?

Und noch eine Frage: Mit welchen Kräften oder Leuten sollte man dieses gespeicherte Level im Spiel wiederholen? Man hat nur Spielfiguren zur Verfügung, die damals gelebt haben, mit ihren begrenzten Fähigkeiten und ihrem eigenen Weltbild. Das gilt für auch für Gorbatschow selbst, der ein Produkt ebendieses Systems war. Er war ein vorbildlicher Held, ein Selfmademan aus einer unteren sozialen Schicht. Er stieg aus der Provinz die Stufen der Macht hinauf.

Die Realität ist, dass die Sowjetunion mit all ihren angehäuften Geschwüren und Krankheiten unter Nutzung ihres eigenen Potenzials reformiert werden musste.

Es schien naheliegend, mit der Wirtschaft zu beginnen, ohne zunächst die politischen Grundlagen anzutasten. Ebenso richtig erschien der Versuch, die Last der Konfrontation mit dem Westen kontrolliert zu reduzieren. Letztlich schienen auch Glasnost – russisch für 'Offenheit' – und die radikale Umstrukturierung des Parteiapparats naheliegend. Andernfalls wären die Reformen zu einer Blase geworden, die auf der Wasseroberfläche eines Sumpfes aufsteigt, anschließend zerplatzt und das Land in seinen verrotteten und schädlichen Stillstand zurückversetzt. So endeten die fieberhaften und schlecht durchdachten Reformen in der Ära des "Tauwetters" unter Chruschtschow.

Höchstwahrscheinlich trugen mehrere Faktoren zum Verlust der Kontrolle über die Situation bei. Zunächst wurde Gorbatschow zu einer Geisel seines eigenen Humanismus, seiner mangelnden Bereitschaft, Repressalien einzusetzen, und seiner Tendenz, Kompromisse zu suchen. Nachdem er dies erkannt hatte, begann eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure damit, seine Stärke zu testen. War es möglich, die Idee eines "gemeinsamen europäischen Hauses" zu fördern und gleichzeitig die aufkommenden Oppositionsbewegungen im sozialistischen Lager brutal zu zerschlagen? Kann man Gewalt anwenden, um Budapest, Prag oder Warschau zu unterdrücken? Kann man mit Panzern auf den Fall der Berliner Mauer reagieren? Das hätte man natürlich machen können. Aber es wäre auch wahrscheinlich gewesen, dass solche Aktionen die Selbstzerstörung des Systems nur noch beschleunigt hätten. Das Austesten der roten Linien wurde zunehmend entschlossener.

In der litauischen Hauptstadt Vilnius kam es schließlich zu einem Aufruhr. Es wurde Gewalt angewendet, und der Sturm dieser Proteste konnte nicht ohne Blutvergießen gestoppt werden. Im Südkaukasus flammten nach und nach ethnische Konflikte auf, während in Zentralasien Eiterbeutel platzten. Die Ukraine driftete in Richtung Unabhängigkeit, nachdem sich deren Nomenklatura zunehmend der Möglichkeit bewusst wurde, die Macht selbst in die Hand zu nehmen. Schließlich führte die RSFSR – die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik – selbst den Zerfallsprozess an. Boris Jelzin war sehr geschickt darin, Gorbatschows Zurückhaltung bei der Anwendung von Gewalt auszunutzen. Was ihn jedoch ein paar Jahre später nicht daran hinderte, mit Panzern auf das Parlamentsgebäude schießen zu lassen, russische Truppen ins rebellische Tschetschenien zu entsenden oder eine Präsidialrepublik zu etablieren, in der die Macht vom Präsidenten ausgeht. Wahrscheinlich gelang es Jelzin damit, den Zerfall Russlands selbst aufzuhalten, aber die Sowjetunion und ihre politische Struktur brachen in historischem Maßstab über Nacht zusammen. Und sie wurde weder von der Nomenklatura, den Geheimdiensten, der Multimillion-Armee oder einer der größten politischen Parteien der Welt gerettet.

Eine tiefliegende Vernachlässigung wirtschaftlicher und administrativer Probleme und jeglicher Reformmöglichkeiten war ein weiterer Faktor für die Auflösung der UdSSR. Der informelle Sektor und die Korruption von oben nach unten störten die Umsetzung aller formellen Pläne. Sie wurden nur als Klatsch und Demagogie betrachtet, als Nachahmung tatsächlicher Aktivitäten und als Chance, den Staatshaushalt zu melken. Alle Dämonen der 1990er Jahre – in Form von Rohstoffwirtschaft, Korruption und grassierender Gesetzlosigkeit – brauten sich stetig über mehrere Jahrzehnte zusammen und begannen schließlich Mitte der 1980er Jahre zu gären. Die Anfänge von Marktwirtschaft und Demokratie gaben den korrupten Eliten die Chance, ihre Macht und Privilegien zu privatisieren. Sie wurden die Hauptnutznießer des Zerfalls der UdSSR.

Gorbatschow befand sich zufällig am schlimmsten Kreuzweg von Herausforderungen und Bedrohungen im Prozess des historischen Wandels in Russland. Im Gegensatz zu Zar Nikolaus II., der politische Reformen fürchtete, an traditionellen Mustern festhielt, von seinen Untertanen entfremdet war und sich in unglückliche Kriege verwickeln ließ, initiierte Gorbatschow die Reformen selbst und er war dabei auch beispiellos volksnah. Er versuchte, Konflikte zu beenden und Beziehungen zur Außenwelt aufzubauen. Aber er verlor den Staat, wofür man ihm noch viele Jahre lang die Schuld zuwies. Allerdings hat Gorbatschow damals auch ein Blutvergießen vermieden, das mit den Ereignissen in Jugoslawien in den 1990er Jahren oder dem Bürgerkrieg in Russland Anfang des 20. Jahrhunderts vergleichbar gewesen wäre. Selten hat die russische Gesellschaft so durchgeatmet wie zu Zeiten Gorbatschows, während gleichzeitig Russland, trotz seiner enormen Ressourcen, noch nie in seiner Geschichte einen so tiefen Niedergang erlebt hat.

Neue Generationen dürfen Gorbatschows Leistung nicht vergessen. Einerseits müssen sie sich der Gefahren überwältigender Korruption, der Kluft zwischen der Gesellschaft und der Macht und der totalen Selbstverleugnung bewusst sein, die damals herrschte. Andererseits dürfen sie den Missbrauch der Reformen, das übermäßige Vertrauen und den Mangel an Härte, wenn sie nötig wird, nicht vergessen.

Gorbatschow ist Teil der russischen Geschichte, ein Symbol für einen großen Wendepunkt, der Russland wichtige Lehren hinterlassen hat. Die Fähigkeit, diese Lehren zu verstehen, wird weitgehend die Zukunft Russlands bestimmen, das noch sehr viele Prüfungen vor sich hat.

Übersetzt aus dem Englischen.

Iwan Timofejew ist Programmdirektor des Waldai-Klubs und einer der führenden Außenpolitikexperten Russlands.

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