Europa

Selenskijs größter Rivale verschwunden: Wo ist General Saluschny?

Der ehemalige Kommandeur der ukrainischen Streitkräfte, der Botschafter in London werden sollte, ist auf verdächtige Weise aus der Öffentlichkeit verschwunden. Selenskij scheint zu fürchten, den Konkurrenten nicht unter Kontrolle halten zu können.
Selenskijs größter Rivale verschwunden: Wo ist General Saluschny?Quelle: Legion-media.ru © IMAGO/ABACA

Von Tarik Cyril Amar

Es gibt nur noch eine wirklich verwirrende Frage zum ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij; warum ist er immer noch im Amt? Alles andere, was ihn betrifft, ist inzwischen offensichtlich: Als selbstbesessener Schauspieler mit einem ungeheuren, aber unsicheren Ego, der leicht durch Schmeichelei zu manipulieren ist – nenne ihn Churchill und schau, was geschieht –, hat er die Rolle eines charismatischen Präsidenten gespielt, erst im Fernsehen, dann in der Wirklichkeit. Doch hat er dabei versagt, sein Land durch die Erhaltung des Gleichgewichts zwischen russischen und westlichen Interessen zu schützen, eine Aufgabe, die die Lage der Ukraine auf der Karte wie in der Geschichte unumgänglich machen.

Indem er sich auf gröbste Weise auf die Seite des Westens schlug wie kein ukrainischer Präsident vor ihm, nicht einmal Pjotr Poroschenko, hat er die nationalen Interessen der Ukraine den westlichen, insbesondere den US-amerikanischen geopolitischen, Strategien geopfert. Dank des offenkundig blinden Vertrauens Selenskijs in die westlichen Versprechen – vor allem, aber nicht nur das einer NATO-Mitgliedschaft – wurde die Ukraine in einem Versuch, Russland dauerhaft zu schädigen, als Stellvertretertruppe eingesetzt. Am Ende, und das ist nah, wird diese Strategie unrettbar gescheitert sein: Russland geht stärker denn je daraus hervor, und die Ukraine wird nicht nur für eine fremde, sondern auch für eine gescheiterte Sache ruiniert worden sein.

Wenn Sie an diesem Ergebnis zweifeln, bedenken Sie zwei Tatsachen: Selbst US-amerikanische Politiker lassen bereits in den Mainstream-Medien des Westens durchsickern (diesmal dient Politico als Sprachrohr), dass "einige" von ihnen daran zweifeln, dass das jüngste – und vermutlich wirklich letzte – US-Hilfspaket von etwa 61 Milliarden US-Dollar die Ukraine retten wird. Und gleichzeitig stellen sie klar, dass es im restlichen Jahr 2024 kein weiteres Geld geben wird. Rechnen Sie es aus: 2025 ist das Thema vermutlich irrelevant. Und Washington weiß das.

Also warum ist der ukrainische Politiker, der für dieses inzwischen sehr vorhersehbare Ergebnis die größte Verantwortung trägt, noch an der Macht? Die einfache Antwort lautet: Weil Selenskij ein autoritäres System errichtet hat, eine Tendenz, die er bereits vor dem russischen Angriff vom Februar 2022 deutlich zeigte und die damals viele Ukrainer laut kritisierten. Ein Ergebnis: Er hätte sich im vergangenen März Wahlen stellen müssen und entschied, es nicht zu tun. Pfeife auf die Verfassung.

Wie praktisch, denn Selenskij hat seine Aura unbesiegbarer Popularität schon lang verloren. Ebenfalls im März befand eines der wichtigsten Umfrageinstitute der Ukraine, dass er diese Wahlen verloren hätte. Und der Mann, der ihn geschlagen hätte, ist Waleri Saluschny, der populärste General der Ukraine. Saluschny diente als – übertrieben gepriesener – Oberkommandierender des Landes, von 2021 bis Februar dieses Jahres, als er von Selenskij gefeuert wurde.

Der Präsident und der General hassen sich abgrundtief; es gibt schlicht keine sanftere Formulierung dafür. Aber Selenskijs Hauptmotiv war ein verspäteter Versuch, einen sehr gefährlichen möglichen Rivalen aus dem Verkehr zu ziehen. Insbesondere, weil Saluschny natürlich in drei Richtungen vorzügliche Verbindungen hat: zu Teilen der ukrainischen Militärführung und auch zu vielen einfacheren Offizieren, zur sehr gut bewaffneten extremen Rechten der Ukraine (die sich zum Teil mit der Armee deckt) und zu Selenskijs anderem Hauptrivalen, dem ehemaligen Präsidenten Pjotr Poroschenko. "Präsident Saluschnij, Premier Poroschenko" – das war eine verbreitete Furcht oder Hoffnung, je nach Standpunkt.

Aber ein gefeuerter Saluschny war noch kein verschwundener Saluschny. Also war der Plan, den 50-Jährigen als Botschafter nach London zu schicken. Laut Dmitri Kuleba, Kiews Außenminister, war einer von Selenskijs Gründen, London für Saluschnys goldenes Exil zu wählen, dass in der britischen Hauptstadt viele diplomatische Vertretungen des Globalen Südens zu finden sind. Ein cleverer Schachzug: Die Länder des Globalen Südens haben sich weitgehend nicht an die Seite des Westens und der Ukraine gestellt, und die ukrainische extreme Rechte, der Saluschny gelegentlich seine Zuneigung und sein Wohlwollen signalisiert hat, schließt Hardcore-Anhänger weißer Überlegenheit mit ein. Womöglich gönnte sich der ehemalige Komiker im Präsidentenbüro einen praktischen Witz.

Saluschny ist aber nicht ins Vereinigte Königreich aufgebrochen. In den letzten Tagen geschahen zwei Dinge. Zuerst gab es Gerüchte, die nach wie vor unbestätigt sind, er befinde sich in Wirklichkeit in einer Art Hausarrest. Dann beeilte sich die ukrainische Regierung zu erklären, dass er, endlich, bald abreisen werde, und dass natürlich nichts an der langen Verzögerung seltsam sei. Der General, den der Präsident so sehr hasst – und fürchtet – habe sich eine Auszeit genommen, die Formalitäten mit den Briten hätten Zeit gebraucht und, zu guter Letzt, unterziehe sich der stämmige General jetzt einem Crashkurs in Diplomatie im Außenministerium – eine weitere brüllend komische Idee.

Wir werden wohl nie erfahren, warum es so lange gedauert hat, Saluschny fortzuschicken. Einige Beobachter spekulierten, der Westen habe Selenskij erpresst: Erst verabschiedest du ein neues Mobilisierungsgesetz, um mehr ukrainisches Kanonenfutter in den Stellvertreterkrieg zu schaufeln, dann geben wir die 61 Milliarden US-Hilfen an dich frei und lassen dich deine Nemesis nach London verschiffen. Derzeit auch das nur Gerüchte.

Wir wissen jedoch etwas anderes: Vor weniger als einem Monat veröffentlichte Politico einen langen Artikel, der auf anonymen Aussagen ukrainischer Offiziere beruhte, die dem ehemaligen Oberkommandierenden nahestanden. Ihre Quintessenz war, dass die militärische Lage der Ukraine verzweifelt sei und dass selbst die Freigabe des US-Hilfspakets – zu jener Zeit im Sumpf des Kapitols gefangen und mit ungewisser Zukunftserwartung – die Dinge nicht wenden werde.

Wie einer von ihnen es formulierte, gibt es "nichts, das der Ukraine jetzt helfen kann, weil es keine ernsthaften Technologien gibt, die für die Ukraine die ungeheuren Truppenmengen ausgleichen, die Russland auf uns loslassen wird. Wir haben diese Technologien nicht, und der Westen hat sie auch nicht, nicht in ausreichender Zahl". Andere erkannten die russische Raffinesse und Anpassungsfähigkeit an und verwiesen klar auf die Tatsache, dass die Ukraine nicht nur militärisch, sondern auch politisch in der Krise sei.

In jenem Moment sah es Kiew natürlich gern, dass das Leid der Ukraine deutlich gemacht wurde, schließlich diente es dazu, die USA – und andere – davon zu überzeugen, mehr Hilfe freizugeben. Aber aus dem gleichen Grund war es offensichtlich verboten zu sagen, dass es auf jeden Fall zu spät war. Also worum ging es wirklich in jenem Artikel in Politico? Reiner Defätismus einer Gruppe von Offizieren, die ihrem früheren Kommandeur gegenüber loyal (und unter seinem Nachfolger entweder ohne Job, degradiert oder schlicht in einer Wolke der Missgunst) waren? Unwahrscheinlich. Ein Signal, dass der Westen nicht länger auf Selenskij setzen, sondern einen neuen Ansatz mit einem neuen Mann – Saluschny – an der Spitze versuchen sollte? Schon eher.

Was diese Episode jedenfalls enthüllt hat, sind zwei wichtige Details: Saluschny ist nicht nur nicht geschlagen und aus dem Spiel, er hat auch noch viele Freunde. Und seine Freunde haben noch immer gute Beziehungen in den Westen. War das vielleicht die wirkliche Bedeutung? Eine Botschaft, die nicht von den redseligen, wenn auch anonymen Offizieren geschickt wurde, sondern von jenen, die ihnen ein Forum gaben, um Selenskij daran zu erinnern, dass er ersetzbar ist? In diesem Fall bereut Selenskij bereits seinen Plan mit London. Vielleicht ist das entscheidende Thema nicht das jener Vertreter des Globalen Südens, auf die sich Kuleba bezog, sondern auf welch vielfältige Weise Saluschny sich mit jenen aus dem Westen würde vernetzen können, weit weg von Kiew und schwer zu kontrollieren.

Und das ist die Krux: Abgesehen von einem günstigen Unfall hat Selenskij keine Möglichkeit, Saluschny wirklich aufzuhalten. Er ist für ihn in der Ukraine gefährlich und ebenso überall sonst. Der Präsident kann versuchen, ihn an den Rand zu stellen, aber selbst wenn er das tut, bleibt dieser ehrgeizige, populäre General immer noch mitten im Spiel. Umso mehr, wenn der Krieg für die Ukraine schlecht läuft. Denn schließlich hat Selenskij Saluschny von seinen Pflichten entbunden, als das Schlimmste noch bevorstand. Damit darf sich jetzt sein Nachfolger und alter Rivale Alexander Syrski herumschlagen. Wo auch immer Saluschny ist, er wird in Selenskijs Kopf leben – und aus gutem Grund.

Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, er befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.

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