Europa

Zehn Monate "präzedenzlose" Sanktionen gegen Russland – eine Revision ihrer Auswirkungen

Bereits im März verhängte die EU ein erstes Sanktionspaket gegen Russland. Es sollte Russland "ruinieren", wie Außenministerin Baerbock sagte. Es folgten noch weitere Sanktionswellen. Inzwischen sind zehn Monate vergangen. Zeit für eine Revision.
Zehn Monate "präzedenzlose" Sanktionen gegen Russland – eine Revision ihrer AuswirkungenQuelle: Legion-media.ru © Lobeca

Von Gert Ewen Ungar

Das Jahr 2022 ist vorbei. Es war ein schwieriges Jahr. Es war unter anderem das Jahr der Sanktionen. Mit "präzedenzlosen Sanktionen", wie es die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) formulierte, versuchten die "Europäische Union" (EU) und der kollektive Westen, Russlands Wirtschaft zu vernichten, um … tja, warum eigentlich?

Es gab dazu eine Vielzahl von Äußerungen. Man wollte Russland "ruinieren", meinte beispielsweise die deutsche Außenministerin gleich nach dem Verhängen der ersten Sanktionen. Man möchte Russland "Grenzen aufzeigen", meinte der Abgeordnete im EU-Parlament Markus Ferber (CSU). Es geht bei der Argumentation ganz viel um das Bestrafen, um Moral und Belehrung. Es geht auch darum, mit den Sanktionen die Kosten für Russland in die Höhe zu treiben. Ein tatsächlich sinnvolles politisches Konzept, das den Konflikt zwischen Russland und dem kollektiven Westen befrieden könnte, ist darin nicht zu erkennen. Aus dem Sanktionsregime spricht rasende Wut und unbändige Aggressivität. Doch lassen wir die psychologisierende Einschätzung einer kollektiven Psyche der EU beiseite und schauen uns das damit Erreichte an. 

Die Sanktionen wurden unmittelbar nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verhängt. Sie waren also bereits gut vorbereitet. Das spricht dafür, dass die EU mit einer Eskalation des Konfliktes ohnehin gerechnet hatte. Sie unternahm jedenfalls monate-, jahrelang nichts zur Vermeidung der Eskalation und kappte im Gegenteil sukzessive Gesprächskanäle nach Moskau. Auch das spricht für die These, dass es im Interesse des kollektiven Westens lag, den inneren Konflikt in der Ukraine bis zu einem Krieg zu eskalieren.

Die NATO jedenfalls antwortete im Januar ablehnend, bestenfalls ausweichend auf Russlands Forderung nach Sicherheitsgarantien. Der größte Teil der EU-Staaten ist Mitglied in der NATO. Das lässt den Schluss zu, dass der Krieg in der Ukraine von der EU wie von der NATO gewünscht und vorbereitet war. Inzwischen weiß man aus berufenem Mund, es war tatsächlich so. Angela Merkel sagte in einem Interview für Die Zeit, Minsk II sollte der Ukraine nur Zeit zur Aufrüstung verschaffen. Spätestens dadurch ist all die zur Schau gestellte moralische Empörung vollkommen unglaubwürdig geworden.

Sanktionsregime als zweite Front gegen Russland

Das Sanktionsregime der EU stellt gleichsam die zweite Front gegen Russland dar. Wer glaubt, die Staaten der EU, Deutschland eingeschlossen, seien nicht Kriegspartei, sollte sich die Rhetorik und die formulierten Ziele vergegenwärtigen, mit denen die verantwortlichen Politiker die Sanktionen verhängten. Das spricht alles eine ganz andere Sprache als die der Parteilosigkeit und der Nicht-Beteiligung.

Nach etwas mehr als einem dreiviertel Jahr Sanktionsregime lässt sich eine erste Bilanz ziehen. Was haben die Sanktionen gebracht? Wie hart wurde Russland getroffen, was ist noch zu erwarten? 

Dazu passt eine Meldung vom 30. Dezember. In einem Interview mit der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti meldet der stellvertretende Leiter des russischen Föderalen Zolldienstes Ruslan Dawydow einen Handelsbilanzüberschuss. Russland hat ins Ausland deutlich mehr Waren exportiert als von dort bezogen. Das sieht jetzt nicht wirklich nach einem durchschlagenden Erfolg des westlichen Sanktionsregimes aus, im Gegenteil. 

Zwar merkt Dawydow im Interview an, im Dezember hätte es – bedingt durch den Ölpreisdeckel einen Einbruch – gegeben. Allerdings beginnt Russland erst im Februar mit Gegenmaßnahmen. Russland verbietet den Verkauf russischen Erdöls an Abnehmer, die sich dem vom Westen diktierten Ölpreisdeckel anschließen. Ziel dessen ist allem Anschein nach eine Verknappung des Ölangebots auf dem Weltmarkt. Dadurch würden die Preise steigen. In Russland ist man jedenfalls zuversichtlich, dass trotz des Preisdeckels und der feindlichen Maßnahmen der EU die Einnahmen Russlands aus dem Ölgeschäft auch im kommenden Jahr stabil bleiben werden. Ob das funktioniert? Man wird es sehen. Richtig schlecht stehen die Chancen dafür nicht. Die bisherigen Reaktionen in Russland auf westliche Sanktionen waren insgesamt sehr durchdacht und effektiv.

Das Einfrieren der russischen Devisenreserven und der Versuch, Russland weitgehend vom Finanzsystem abzuschneiden, gingen jedenfalls gründlich daneben. Kurzzeitig war zwar der Rubelkurs eingebrochen, und die Inflation sprang in die Höhe. Die russische Antwort war, Gas nur noch gegen Rubel zu verkaufen. Das hat den Rubelkurs unmittelbar stabilisiert und den Rubel sogar zur stärksten Währung der Welt gemacht. Die Inflation geht in Russland seitdem zurück und liegt inzwischen unter den Inflationsraten von zahlreichen Staaten der EU.

Der Westen hat den Finanzkrieg bereits verloren

Gleichzeitig haben die Sanktionen im Finanzbereich all die Bestrebungen nur noch beschleunigt, sich vom US-Dollar oder auch dem Euro als Handelswährungen zu verabschieden und auch die Entwicklung von Alternativen zum SWIFT-Transaktionssystem voranzutreiben. Indien und Russland, Russland und China, Saudi-Arabien und China, Russland und Iran verabredeten mit neuen Handelsabkommen die Abrechnung in den eigenen Währungen. Diese Beispiele verdeutlichen den globalen Trend, der durch das westliche Sanktionsregime noch einmal beschleunigt wurde. Die EU und die USA haben deutlich gemacht, dass der Euro und der US-Dollar keine sicheren Währungen mehr sind. Die Bereitschaft der EU und der USA, ihre Währungen zu politischen Zwecken zu missbrauchen, hat das Vertrauen in beide Währungen beschädigt. Das kommt auch nicht wieder. 

Nach offiziellen russischen Angaben betrug der Einbruch des russischen BIP in diesem Jahr 2,9 Prozent. Das ist ein geringerer Einbruch als im ersten Corona-Jahr. Laut Premierminister Mischustin ist die Talsohle bereits durchschritten. Vom ursprünglich prognostizierten und vom kollektiven Westen erhofften Einbruch der russischen Wirtschaft in Höhe von 15 oder gar 20 Prozent ist das himmelweit entfernt.

Um dieses Wirtschaftswunder zu bewerkstelligen, haben zahlreiche Faktoren und Akteure zusammengespielt. Zum einen gelang es, unter dem Begriff "Importsubstitution" einen Gründerzeit-Boom auszulösen. Produkte, die bisher importiert wurden, werden in immer größerem Umfang in Russland selbst hergestellt. Spezielle staatliche Förderungen stehen bereit, Gründer werden umfassend unterstützt, Kredite dafür zu günstigen Konditionen vergeben.

Der Wille, auf heimische Produktion umzustellen, umfasst alle Wirtschaftsbereiche – vom Modedesign über die Arzneimittelproduktion bis hin zum Flugzeugbau. Hier ist das Ziel, bereits mit der Konstruktion vollständig von ausländischen Lieferanten unabhängig zu werden. Ab 2024 soll das erste Flugzeug ausgeliefert werden, das in allen Teilen ausschließlich in Russland produziert wird. Die bisher in Russland produzierten Modelle wie Superjet 100 und MC 21 waren noch auf ausländische Zulieferer angewiesen. Das soll sich ändern. Dieser russische Markt geht somit für westliche Produzenten verloren. 

Die Entwicklung im Bereich Flugzeugbau lenkt den Blick auf eine weitere Maßnahme, die unter dem Begriff "technologische Souveränität" kommuniziert wird. Russland tut gerade alles dafür, sich aus der entstandenen technologischen Abhängigkeit vom westlichen Ausland zu lösen.

Während in der EU Google, Facebook und Co unverzichtbar, man sich die Gefahren, die damit für die EU verbunden sind, aber kaum vergegenwärtigt, hat sich Russland von den großen westlichen Internetgiganten längst losgesagt. Yandex ist hier inzwischen wichtiger als Google. Amazons Alexa heißt hier wahlweise Alissa (Алиса) und kommt von Yandex oder Marusja (Маруся) vom russischen sozialen Netzwerk VK. Neben Android-TV steht hier die Alternative Yandex-TV zur Verfügung. Westliche Produkte und die damit verbundene Abhängigkeit? – Nein danke! Es findet ein umfassender Prozess der Entkopplung statt.

Die Sanktionen haben gezeigt, dass der Westen kein verlässlicher, vertrauenswürdiger Partner ist. Die Lehre daraus ist, man muss es selbst machen. Dort, wo das nicht geht, helfen andere Maßnahmen. Derjenige, der glaubte, der Rückzug westlicher Automarken aus Russland würde eine Lücke reißen, sieht sich getäuscht. Russische, chinesische und ab dem nächsten Jahr sogar ein iranischer Hersteller springen ein. Im hochpreisigen Segment sind es vor allem chinesische Autos, die auf den russischen Markt drängen. Was insbesondere diese chinesischen Wagen angeht: sie sind in technischer Ausstattung und Design von einer Qualität, dass man über keine hellseherischen Fähigkeiten verfügen muss, um zu prognostizieren, dass für Daimler, BMW und Audi der russische Markt endgültig verloren gegangen ist.

Die Sanktionen sind gescheitert

Insgesamt ist der bösartig zu nennende Versuch gescheitert, durch Sanktionen einen umfassenden Mangel in Russland auszulösen. Produkte von Marken, die sich aus dem russischen Markt zurückgezogen haben oder aufgrund von Sanktionen nicht direkt liefern dürfen, kommen jetzt obendrein noch über Drittländer wie die Türkei. Der Begriff dafür "Parallelimport". Es gibt in Russland daher selbst daran keinen Mangel.

Und damit sind wir beim entscheidenden Faktor für den Misserfolg der Sanktionen. Der Westen ist isoliert. Die überwiegende Mehrheit der Länder trägt die Strafaktion schlicht nicht mit. Die Mehrzahlt der Länder trägt sie nicht mit, weil sie die westliche Sicht auf den Konflikt nicht teilen und weil zudem auch sie ein Interesse daran haben, die westliche Dominanz zu brechen. Der umfassende Hass, der im aggressiven Sanktionsregime sichtbar wurde, war für die Länder der Welt sicher mit eines der Signale, dieses Regime durch einen Akt der Solidarität mit Russland und auch im eigenen Interesse zu unterwandern. Denn es ist jedem Staatenlenker außerhalb des kollektiven Westens klar, dieser Hass kann in seiner Unvernunft und Unberechenbarkeit jeden treffen, der sich dem westlichen Dominanzstreben widersetzt. Die Welt braucht daher neue und verlässliche Regeln, Organisationen und Institutionen, die nicht vom Westen unterwandert sind oder werden können. Diese zu schaffen ist die große Aufgabe, an die sich die Länder außerhalb des Westens gemacht haben – unter Beteiligung und Einbeziehung von Russland wohlgemerkt. 

Die Sanktionen sind gemessen an dem gescheitert, was die EU mit ihnen beabsichtigt hatte. Noch einmal kurz zurück zur Frage nach dem Warum? Die Sanktionen hatten bisher keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf. Sie haben die Haltung der russischen Bevölkerung zum Krieg und zur russischen Regierung nicht geändert. Sie haben aber die Haltung gegenüber der EU und dem kollektiven Westen negativ beeinflusst. Sie haben auch in der russischen Regierung nicht zum Einlenken geführt. Auch an eine moralische Überlegenheit der westlichen Position glaubt hier die übergroße Mehrheit nicht – im Gegenteil.

Die negativen Auswirkungen sind innerhalb der EU stärker und negativ zu spüren als in Russland. Sie sind unter anderem an der internationalen Solidarität mit Russland gescheitert. Das sollte im kollektiven Westen eigentlich ganz grundsätzliche Überlegungen auslösen, sowohl was den eigenen Anspruch als auch seine politische Klugheit angeht. Dass diese Überlegungen ausbleiben, die EU und Deutschland das Sanktionsregime keiner Revision unterziehen und ihre Position nicht korrigieren, verheißt nichts Gutes – nicht für die EU und nicht für Deutschland. Der Rest der Welt wird damit umgehen können.

Mehr zum Thema – Folgen der Sanktionen gegen Russland: Rekordlieferungen nach China

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